Jahr des Märchens 2023 / Erster Impuls: Dummlings-Qualitäten / Märchen-Talk

Zuhören, umschauen und entdecken

Dummlings-Qualitäten - Märchen-Talk

Im Grimm'schen Märchen "Die weiße Taube"* sollen drei Königssöhne einen Birnbaum bewachen, um den Dieb zu entdecken, der die Birnen in einer Nacht vom Baum holt. Die ältesten Brüder schlafen ein, und am Morgen sind die Früchte fort. Der Jüngste bleibt wach, entdeckt eine Taube und folgt ihr, als sie mit der letzten Birne davonfliegt. Er sieht sie auf einen hohen Berg hinauffliegen und in einem Felsenritz verschwinden. Er bleibt stehen und sieht sich um. Dabei entdeckt er ein kleines, graues Männchen.

Hier könnt ihr das ganze Märchen nachlesen: Märchentext

 

Märchen-Talk mit Marie, Felicitas und Frau Grimm

„Lasst uns dazu die ersten Sätze des Märchens anschauen“, schlägt Frau Grimm vor.

„Oh, ich weiß schon“, sagt Felicitas. „Die ersten Sätze im Märchen sind die wichtigsten. Die sagen immer, worum es geht. Hier steht ein Birnbaum vor einem Königspalast.“

Marie legt den Finger auf die Lippen. „Lass Frau Grimm erzählen!“

„Okay.“ Felicitas lehnt sich zurück.

„Im Mittelpunkt steht ein Birnbaum“, sagt Frau Grimm. „Das heißt, er steht nicht im Mittelpunkt, sondern vor dem Königspalast. Warum? Wenn Märchen sich nicht mit Überflüssigem aufhalten, muss das eine Bedeutung haben.“

„Hm“, sagt Felicitas.

„Ein König im Märchen symbolisiert die höchste geistige Kraft, das Männliche, das Pragmatische. Er hat das Sagen und die Macht. Er regiert sein Reich von einem Palast aus, der vermutlich prächtig und repräsentativ ausgestattet ist, In dieser Machtzentrale fehlt es an nichts. Da geschieht das, was die Macht des Königs bestimmt und erhält. An den Toren des königlichen Palastes aber endet seine Macht. Den prächtigen Birnbaum beherrscht er nicht.“

„Oh!“

„Der Birnbaum trägt in jedem Jahr die schönsten Früchte. Vielleicht können die Palastbewohner sie von ihren Fenstern aus sehen und sich jedes Jahr auf die süßen Birnen freuen. Vielleicht läuft ihnen beim Anblick das Wasser im Mund zusammen.“

„Die Birnen verschwinden über Nacht“, murmelt Felicitas, „und keiner weiß, wer der Dieb ist!“

„Damit verweist das Märchen auf etwas, was im Palast fehlt: das Süße und Saftige, das Lustvolle, Fruchtbare und Lebendige. Das Märchen erwähnt keine Königin oder irgendein anderes weibliches Wesen. das könnte heißen: Das Weibliche fehlt, das Lustvolle, das Fruchtbare und das Lebendige.“

„Das Märchen sagt es, obwohl es das verschweigt.“

„Ja, was verschwiegen wird, kann wichtig sein“, sagt Marie.

„Aber die Söhne“, sagt Felicitas, „die Söhne sind ja auch wichtig, und die werden genannt … obwohl: Die ersten beiden sind überflüssig - oder? Die könnte man eigentlich weglassen.“

„Nein“, sagt Frau Grimm, „denn sie verweisen auf etwas Wichtiges. Ein Jahr lang sollen die drei Königssöhne den Baum bewachen, alle Nacht. Das weist darauf hin, dass sich etwas entwickeln muss. Während sie Wache halten, kommen sie mit der Natur in Berührung, mit dem Ablauf der Jahreszeiten. Sie sehen den Baum erblühen. Sie sehen zwar, wie die Früchte sich entwickeln und reifen, aber sie haben anscheinend keine Ahnung von der Dauer dieser Entwicklung. Der erste Königssohn wacht immer eifriger und verausgabt sich - kein Wunder, dass er vom Schlaf überfallen wird. Der zweite versucht, sich den Schlaf abzuwehren, aber auch er schläft ein.“

„Penner!“ zischt Felicitas verächtlich.

„Sie sind unerfahren. Aber Märchen sind fehlerfreundlich. Es gibt es immer eine zweite und eine dritte Chance. Nun geht es um die Qualitäten des Dummlings.“

„Qualitäten? Dass ich nicht lache!“ Felicitas verzieht das Gesicht.

„So haben die Leute am Hof des Königs auch reagiert. Als der König sich durchgerungen hatte, den Dummling zu beauftragen, hat es ein großes Gelächter gegeben.“

„Aber der Dummling kannte das, oder?“

„Davon kann man ausgehen. Er lief immer so mit. Das war sicher nicht schön, aber ihm blieb immer viel Zeit zum Beobachten. Um das Gelächter schien er sich nicht zu kümmern. Er hatte nichts zu verlieren und konnte die Sache ruhig angehen.“

„Auch wieder wahr!“

„… und dann sitzt er unter dem Birnbaum. Ein Jahr lang. Alle Nacht. Ihm gelingt, woran seine Brüder gescheitert sind. Er wehrt sich den Schlaf ab, und seine Geduld wird belohnt. Wie ein Gedanke, wie eine Erscheinung oder eine Botschaft taucht die weiße Taube auf, kommt zum Baum geflogen, pflückt eine Birne ab und trägt sie davon. Sie kommt wieder, um die nächste abzubrechen, fliegt fort und kommt zurück, immer wieder.“

„Puh! Das kann dauern, bis ein Birnbaum abgeerntet ist!“

„Hier sind die Qualitäten des Dummlings Gold wert. Er hat die Ruhe weg und bleibt sitzen. Ruhig schaut er zu, bis die letzte Frucht abgeerntet ist. Erst dann steht er auf und folgt der Taube.“

„Mir kommt an dieser Stelle ein Gedanke“, sagt Marie. „Als Dummling hat er den Palast verlassen. Er hat den Birnbaum bewacht und den Dieb entdeckt. Das war die Aufgabe. Er könnte nun zum König laufen und erzählen: Ich habe den Dieb entdeckt, es ist eine Taube!“

Felicitas lacht. „Na, das hätte wieder ein Gelächter gegeben!“

Frau Grimm nickt. „Ja, und er wäre der Dummling geblieben. Aber er steht auf und macht seine ersten eigenen Schritte. Er folgt der Taube, sieht, wie sie auf einen hohen Berg hinauffliegt und in einem Felsenritz verschwindet.“

Felicitas ballt ihre kleinen Fäuste. „Hinterher, auf den Berg hinauf!“

Frau Grimm schüttelt kaum merklich den Kopf.

„Oh nein, das macht er nicht. Er stürzt nicht hinterher. Er bleibt stehen und sieht sich um.“

Felicitas klingt enttäuscht. „Sieht sich um? Nur um? Mehr nicht?“

„Da sieht er neben sich ein kleines graues Männchen.“

„Oh!“

„Graue Männchen stehen im Märchen oft an entscheidenden Stellen. An Weggabelungen oder vor verschlossenen Türen. Sie sind leicht zu übersehen. Aber wer sie erkennt und sie würdigt, kann wichtige Hinweise bekommen. Das graue Männchen kann zum Beispiel einen ungeliebten Charakterzug symbolisieren oder eine Schwäche. Die Schattenseite des Dummlings vielleicht, das Etikett Dummling. Aber genau das streift er in diesem Moment ab. Er würdigt es, in dem er sagt: "Gott segne dich!“

„Gott, segne dich? Warum denn das?“

„Ich habe mal etwas dazu gelesen“, sagt Marie, „Ich weiß nicht mehr wo, aber ich habe es aufgeschrieben und mir gemerkt:

Wenn wir segnen, nehmen wir eine veränderte Haltung ein.

Wir verbinden uns mit dem Guten und Kraft schenkenden im Leben.“

„Das klingt gut“, sagt Frau Grimm. „Segnen bedeutet die volle Zustimmung zu dem, was man erkennt. Damit ist für den Dummling das erlöst, was ihm bisher im Wege gestanden hat. Das graue Männchen reagiert prompt:

Gott hat mich gesegnet mit diesen deinen Worten. Du hast mich erlöst.

Nun steig in den Berg hinab, da wirst du dein Glück finden.“

Felicitas stützt den Kopf in ihre Hände und murmelt vor sich hin: „Auf den Berg zu steigen wäre also falsch gewesen – hm. Das Gegenteil ist richtig – hm. Obwohl es so anders aussah – hm. Es geht also manchmal genau in die andere Richtung. Hier geht es in die Tiefe. Er vertraut dem grauen Männchen und seiner eigenen, inneren Stimme … hm.“ Sie springt auf. „Das ist die Lösung! Im Berg findet er die Taube - na gut, sie ist noch von Spinnweben umstrickt. Aber sie sieht ihn, befreit sich und wird eine Prinzessin!“

„Damit ist die schöne weibliche Seite erlöst, und der Dummling kann König werden.“ Frau Grimm lächelt.

„Schön …“ sagt Felicitas. Ihr Blick verklärt sich. „War es das für heute?“

"Ja", sagt Frau Grimm. "Jetzt können wir gespannt sein, was die LeserInnen dazu sagen."

"Oh ja", ruft Felicitas. "Wir freuen uns über eure Gedanken und Kommentare."

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Kommentare: 1
  • #1

    Martina Böhme (Freitag, 03 März 2023 16:53)

    Liebe Christiane, ich glaube, die weißeTaube war das erste Märchen der Ausbildung bei Dir. Wie habe ich die Gespräche bei Dir und mit Dirk genossen. Ich habe gleich Bilder im Kopf an den schönen Raum, den Tee den Du für uns bereit hattest, die Wärme Atmosphäre. Das ist mehr als 7 Jahre her, eine magische Zahl. Ich denke, der Dummling hat das Glück seine Aufgabe ohne Erwartungsdruck an ihn zu erfüllen. Ihm traut ja niemand etwas zu. Er kann entspannt aus eigener Motivation handeln, sich ganz auf die Situation einlassen. Er ist ganz mit sich selbst verbunden und kann unverstellt seinen Intuitionen folgen. Ein anderer hätte das graue Männchen vielleicht nicht gesehen. Dies sind meine Gedanken und herzliche Grüße Martina