Märchenheldinnen?

"Was mich an Märchen stört, ist, dass Frauen in ihnen immer so schlecht wegkommen."

 

Ein Besucher hat sich in mein kleines Märchen-Antiquariat verirrt und spricht das aus, was ich oft höre. Geht es euch auch so? Sucht ihr nach starken Frauen im Märchen und schaut eher empört oder zumindest mit gemischten  Gefühlen auf Aschenputtel oder Dornröschen? Oder gar auf die Stiefmütter, die in vielen Märchen ihr Unwesen treiben?

 

Märchen dieser Art entsprechen nicht dem Zeitgeist.

Der will Mädchen und Frauen taff und cool sehen, mutig und entschlossen. Ein Zeitgeist, der genau diese Mädchen und Frauen enorm unter Druck zu versetzen vermag. Das aber ist noch nicht das Hauptproblem.

 

Moment; Problem? Wo liegt das Problem?

Wir übersehen die weiblichen Stärken. Wie bitte? Wir erzählen von starken Frauen und übersehen die weiblichen Stärken? Ja, genau.

 

Eine meiner Lieblingsheldinnen ist Aschenputtel.

Aschenputtel muss schon früh den Tod der Mutter verkraften. Sie trauert. Sie leistet die ganze schwere Arbeit im Haus, wird verspottet und verächtlich gemacht. Wie verlassen muss sie sich fühlen, wenn sie zum Grab der Mutter geht, um zu trauern! Aber sie bleibt sich treu. Sie wünscht sich einen Haselzweig, pflanzt ihn ein und begießt ihn mit ihren Tränen. Die Entwicklung dieses Mädchens geschieht im Verborgenen, im Innern und zeigt sich im Wachsen dieses Haselnussbaumes.

 

Sie möchte mit aufs Fest gehen.

Sie fragt, bittet, wird abgewiesen und ausgetrickst. Sie merkt, dass sie so nicht weiterkommt und hört auf zu fragen. Aber sie gibt nicht auf. Statt auf die Stiefmutter verlässt  sie sich auf die Hilfe der Täubchen (die geistigen Wesen, die Gedanken), die ihr beim Sortieren helfen.

Und dann: Welchen Mut und welche Kraft bringt dieses Mädchen auf, um ins Schloss zu gehen und sich zu zeigen! Nicht nur in in ihren schönsten Kleidern! Nein, auch als Aschenputtel, verschmutzt und im grauen Kittel, als der Königssohn kommt, um ihr den Schuh anzuprobieren.

 

Männer und Frauen im Märchen

Wenn wir die Märchenwelt in Frauen und Männer aufteilen, drängt sich der Eindruck auf, der Königssohn habe sie erlöst. Aber wenn wir den Blick von Männern und Frauen abwenden und statt dessen auf männliche und weibliche Anteile richten, lässt sich genau dieses Problem lösen. Das kleine Mädchen, das von Stiefmutter und Stiefschwestern drangsaliert wird, muss (trotz dieser von außen wirkenden Kräfte) die weibliche Kraft (der guten Mutter) und die männliche Kraft (des Vaters) in sich entwickeln. Erst die Verbindung männlicher und weiblicher Anteile schafft die Voraussetzung, Königin werden.

 

Warum mich dieses Thema so umtreibt?

Ich möchte mit dem Zeitgeist-Blick nicht vergessen, dass es im Leben und Zusammenleben noch um andere Qualitäten geht, als cool und taff und straigt aufzutreten. Es kommt auf mehr an:

Auf innere Schönheit zum Beispiel, auf Treue und Geduld, auf Selbstbeherrschung, Fürsorge, Selbstverantwortung und Durchgehenkönnen durch schwierige Zeiten. Der Zeitgeist würde es vielleicht Resilienz nennen. Ich zähle Achtsamkeit dazu und letztlich auch Liebe. Wer das lebt, auch aus den schlimmsten Situationen heraus, und wer bei sich bleibt, der hat meine größte Hochachtung. Dazu gehört viel Mut, und darin sehe ich die wahren Märchen-HeldInnen.

 

Ich wünschte, wir würden den Zeitgeist konsequent mit diesem Mut füttern.

Die Märchenheldinnen hätten uns einiges dazu zu sagen.

 

Was meint ihr dazu?

 

Beim nächsten Mal geht es weiter mit einem der folgenden Themen:

Männliche oder weibliche Tugenden - was davon zählt noch in unserer Welt?

Mütter und Stiefmütter - das ewige Thema, auch dazu gibt es demnächst einen Impuls.

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Kommentare: 1
  • #1

    Sieglinde Schröder (Freitag, 12 Mai 2023 21:28)

    Danke für deine Gedanken zu dem Märchen.
    Für mich ist es auch ein Märchen zur Trauerbegleitung.
    Liebe Grüße Sieglinde �