Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen
Gedanken zum Märchen von Hans Christian Andersen
Eine Geschichte, die traurig stimmt
Es ist ein Märchen, das mir in der kalten Jahreszeit immer wieder begegnet: Ein kleines Mädchen irrt an einem kalten Silvesterabend durch die Straßen einer Stadt. Es hat keine Mutter mehr, der Vater trinkt und schlägt es, es ist hungrig und friert. Es soll Schwefelhölzchen verkaufen. Aber niemand kauft ihm etwas ab, die Jungen der Stadt verspotten es und stehlen seine Schuhe, die Menschen hasten an ihm vorbei. Am Morgen findet man das kleine Mädchen in einer Hausnische - tot. Es ist erfroren. In seinen Händen hält es ein Bündel abgebrannter Hölzchen.
Die Reaktionen auf dieses Märchen sind einhellig: "Ach, das arme Mädchen!" - "Das ist so traurig!" - "Da möchte ich gar nicht hören!" - und selbst Erzähler/innen sagen: "Das erzähle ich nicht, weil es so traurig ist."
Ein Märchen, das schöne Bilder malt
Ich versuche, mir vorzustellen, wie die Geschichte entstanden sein könnte. Da findet man am Neujahrsmorgen ein kleine, totes Mädchen. Die Nachricht verbreitet sich schnell in der kleinen Stadt. Auch Hans Christian Andersen hört davon. Als Märchendichter belässt er es nicht bei der Schilderung der kalten, unbarmherzigen Situation. Er macht ein Märchen daraus und erzählt, wie es dazu gekommen sein könnte. Dabei nimmt er auch die Welt der Stadtbewohner mit in den Blick. Die sitzen in ihren warmen Stuben mit prächtig geschmückten Weihnachtsbäumen und köstlichem Gänsebraten. An dem kleinen Mädchen hasten sie vorbei. Keiner kauft ihm ein Hölzchen ab oder schenkt ihm auch nur einen Pfennig oder ein Stück Brot. Keiner von ihnen kommt auf den Gedanken, es in sein warmes Haus einzuladen.
Das Mädchen zieht sich in eine Hausecke zurück und zündet ein Hölzchen nach dem anderen an, um sich zu wärmen. Im Schein kleiner Flammen tauchen die schönsten Bilder vor ihm auf, Bilder von warmen Stuben, hell erleuchteten Weihnachtsbäumen und Gänsebraten. Wenn ein Hölzchen erlischt, verschwindet auch das Bild. Am Ende erscheint inmitten eines brennenden Bündels die Großmutter, die einzige, die einst gut zu ihm gewesen war. In ihren Armen fährt das kleine Mädchen in den Himmel.
Das Mädchen aus Sierra Leone
Am Morgen desselben Tages lese ich in der Regionalzeitung von einem elfjährigen Mädchen aus Sierra Leone. Es war mit 45 Mitreisenden auf dem Mittelmeer in einen schweren Sturm geraten und trieb drei Tage lang im stürmischen Meer, bis es als Einzige gerettet werden konnte.
Für mich treffen beide Geschichten an einem Tag zusammen, und ich finde, sie sollten erzählt werden. Die von der glücklichen Rettung - wenn ich das 'glücklich' hier auch nur sehr vorsichtig gebrauche - und die vom berührenden Ende eines jungen Lebens.
Was uns das Märchen zu sagen hat
"Warum - verflixt noch mal - hilft denn keiner dem Mädchen?", schreibt eine Facebook-Nutzerin, und andere meinen: "Das kann ich gar nicht hören und schon gar nicht erzählen", oder: "Das rührt mich zu Tränen.."
Vielleicht will das Märchen ja gerade das. Kaum ein Märchen appelliert so an unser Mitgefühl wie dieses. Aber ich glaube, es geht um mehr, denn das Märchen erzählt nicht nur die Geschichte des kleinen Mädchens. Es richtet das Licht auch auf die Menschen der Umgebung, hinein in ihre warmen Stuben, an die reich geschmückten Weihnachtsbäume und die üppig dedeckten Tische, und auf sie, die achtlos an dem Mädchen, das ihnen seine Zündhölzer entgegenhält, vorbeihasten.
Sie hätten stehenbleiben, das Mädchen anschauen, im ein Zündholz abkaufen, ein paar warme Schuhe oder eine Mütze geben, es auf einen heißen Kakao einladen, ein warmes Wort an es richten können - rechtzeitig, bevor es in einer Hausnische erfriert.
Was von der Geschichte bleibt
Die Schilderung einer realen Situation ist kalt, unbarmherzig und grausam. Wenn wir einen solchen Beitrag in der Zeitung liest, blättern wir schnell weiter. "Schrecklich", sagen wir vielleicht noch, oder "Ach", bevor wir zur nächste Meldung wechseln, so wie die Stadtbewohner im Märchen weitergehastet sind.
Aber das Märchen verharrt weder in der Kälte und Grausamkeit der Welt, noch geht es achtlos weiter. Es nimmt sich des kleinen Mädchens an und zeigt ihm die schönsten Bilder.
Hans Christian Andersen versteht es, mit diesen Bildern zu nutzen das zu beschreiben, was das kleine Mädchen braucht und sich erträumt: Wärme, Nahrung und Menschen, die es bei sich aufnehmen. Märchen heben nicht den Zeigefinger. Sie prangern nicht an. Sie erzählen einfach. Geschichten, die uns zu Tränen rühren und uns daran erinnern: Wir sind noch berührbar.
Ich habe dieses Märchen als Kind geliebt. Das Kalte und Grausame war mir nicht so präsent wie die schönen Bilder und das gute Ende. In den letzten Momenten seines jungen Lebens erfährt das kleine Mädchen die Geborgenheit der Großmutter. Damit setzt Hans Christian Andersen der traurigen Geschichte etwas Tröstliches entgegen.
Als Zehnjährige spielte ich das kleine Mädchen in einem Kindertheater. Ich erinnere mich eindrücklich an die Szenen, in denen ich das Streichholz anzünden und mich im Arm der Großmutter geborgen fühlen durfte.
Ich wage eine These: Die großen Leute sehen im Märchen vor allem das Grausame, Kalte und Schwierige. Kinder dagegen richten ihren Blick eher auf das Schöne, Warme und Gute - wenn wir es ihnen erzählen. Dieses Märchen ist traurig und tröstlich zugleich. Diese Gefühle sollten wir uns und unseren Kindern nicht vorenthalten.
Ein Gedanke zum Schluss
Vor rund 180 Jahren, als Hans Christian Andersen das Märchen schrieb, haben die Menschen über all dem Überfluss, der Stuben füllte und Tische deckte, das kleine, lebendige Kind übersehen und vergessen. Am nächsten Tag war es tot - verhungert und erfroren.
Märchen sind dazu da, uns immer wieder einen Spiegel vorzuhalten. Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen rührt uns zu Tränen. Immerhin.
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Barbara Maikranz (Dienstag, 17 Dezember 2024 16:52)
Wie Du habe ich das Märchen als Kind geliebt! Das Grausame, so Traurige, war mir damals noch gar nicht so klar. Das Ende war mir wichtig! Das Wiedersehen mit der Großmutter, der große Tannenbaum, Licht, Wärme, Geborgenheit…
Heute mag ich das Märchen auch! Tauscht es nicht den Schrecken des Todes gegen das Wiedersehen mit unseren Lieben „auf der anderen Seite“?
Und es macht auch klar, dass WIR ALLE manche aus ihrer Not retten könnten und sollen…
Hans-Jörg Hubmann (Dienstag, 17 Dezember 2024 17:00)
2008 habe ich das Märchen in meinem Weihnachtprogramm auf einer Firmenfeier erzählt. Da ich kurzfristig von der Sekretärin gebucht war besonders darauf gefreut weil meine Erkältung fast weg ist und ich so eine gute volle Erzählstimme hatte. So ruhte ich in mir war besonnen und es hat den meisten gut gefallen.
Als vorletztes habe ich das Mädchen mit den Schwefelhölzern erzählt. Ich erzähle es gern und finde es wunderschön deshalb ist es in meinem Weihnachtsprogramm . Ich habe mit ganz normaler Erzählerstimme erzählt. Also natürlich in keiner Weise getragen so das die Traurigkeit in jedem Wort steckt. Im Gegenteil ich habe so gar besonders freudig beschrieben was sie im Schein des Schwefelholzes sah. Die Stellen wo vom Tod die Rede ist habe ich mit fester sicherer Stimme erzählt.
Jedenfalls hatte ich zwei unerwartete Reaktionen. Einige dachten bei der Stelle: Und dort oben war weder Kälte noch Hunger noch Angst - sie waren im Himmel!
es sei zu Ende und wollten klatschen. Ich erzählte weiter Bis: Aber als der Morgen hereinbrach, fanden die Leute im Winkel zwischen den Häusern ein kleines Mädchen mit roten Wangen und einem Lächeln auf den Lippen, tot, erfroren am letzten Abend des alten Jahres .
Da entstand an einem Tisch Unruhe und jüngere Leute die das Märchen vielleicht nicht kannten riefen: Das ist aber makaber. Ich erzählte ruhig weiter bis zum Ende. Um sie herum lagen die abgebrannten Schwefelhölzchen. Sie hat sich wärmen wollen.« Die Leute wussten nicht, was sie Schönes gesehen hatte und wie sie mit ihrer alten Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war.